Nicht nur in Sachen Sonnenstunden hatte der März 2022 in unseren Breiten alle Rekorden gerissen, auch in den Gruben ging es Dank der Topbedingungen rekordverdächtig zu. Knochentrockener Fels in allen Sektoren, optimale Temperaturen, die für einen unglaublichen Grip gesorgt haben und das nicht nur für ein zwei Tage, sondern für gut drei Wochen am Stück. Das Ergebnis dieser Kombination mit Seltenheitswert – eine ganze Reihe von hochkarätigen Erstbegehungen sowie Wiederholungen von Extremklassikern bis in die obersten Schwierigkeitsgrade.
Dass die Neutourenausbeute sich nicht, wie in den letzten Jahren üblich, auf irgendwelche verkappte Kombis, Kurzstreckenboulder mit Seil oder reingequetschte Ellenbogenanklapper begrenzt, sondern fast durch die Bank Routen von höchster Qualität umfasst, ist schlichtweg der Tatsache geschuldet, dass sich ein Großteil der Neutouren aus dem üppigen Fundus vernachlässigter Projekte rekrutiert, die von ihren OBs (original bolters) für 5 Jahre und mehr links liegen gelassen worden sind.
Doch nicht nur das Topwetter, die Topverhältnisse und die Toprouten pret a porter sind meiner persönlichen Meinung nach für unsere Hyperaktivität in den Gruben in diesem Monat verantwortlich. Die täglichen Höchststände von Coronainfektionen und vor allen Dingen der Krieg in der Ukraine lassen uns mit einem Gefühl der Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Entsetzen und – ja – auch Kontrollverlust auf die Weltenläufe blicken – unser Alltag wird, mehr oder weniger, davon geprägt. Konkret versucht jeder, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit Solidaritätsbekundungen, Spenden oder mit konkreten Hilfsangeboten auf diese Herausforderungen zu reagieren, aber selbst bei vollem Einsatz bleibt das dumpfe Gefühl, nicht genug beitragen zu können – egal was man tut, das kafkaeske Rad dreht sich schwungvoll weiter und nimmt uns in unserem Ausgeliefertsein gnadenlos mit. Und so landen wir dort, worüber ich im letzten Absatz der Jahresabschlussnews 2021 orakelte. Über unseren kleinen Mikrokosmos in den Gruben, wo wir – im wahrsten Sinne des Wortes – gefühlt alles im Griff und unter Kontrolle haben, uns kurz vorgaukeln können gesetzte Ziele ohne große Umwege erreichen zu können und wir für kurze Momente in voller Konzentration auf etwas scheinbar völlig Bedeutungsloses dem sich drehenden Rad entfliehen können. Und das ist auch gut so, denn diese Autosuggestion von „ich habs im Griff“ ist für uns eine von vielen Möglichkeiten, um im Zufallsgenerator des wahren Lebens einen gewissen Optimismus zu behalten.
Bevor ich zu den Neuzugängen komme werfe ich schnell ein Blick auf erwähnenswerte Wiederholungen, zumindest auf solche, von denen ich Wind bekommen habe. Mit Sicherheit glückten bei den Topbedingungen in Kombination mit der starken Frequentierung der Gruben noch viele weitere Highlights, die aber unterm Radar geblieben sind. Also – let´s GO!
Antonia Günther glückte die zweite dokumentierte Frauenbegehung der Inkognito, die allgemein recht wenige Durchstiege sieht und ganze 14 Jahre ist her, dass Marion Mannheim die wirklich schräge Cruxpassage dieser Route als erste Frau knacken konnte. Zu allem Überfluss entschied sich Antonia für die völlig unklare Eisenhauer-Variante der Cruxpassage, das muss man erstmal bringen und wenn dann klappt das auch nur bei den richtigen Temperaturen.
Das gilt auch für die Lea, DIE klassische Kantenklatsche an der Großen Wand. Auch Alex Preis erwischte im März die passenden Temperaturen für seinen Durchstieg und da er nun schon mal im Kantenmodus war, legte er in der Sandkastenspiele fürs Ego stande pede nach. Neben Alex waren auch Marc Wolff und Alex Hrovath in dieser Route erfolgreich, sodass sie in kurzer Zeit mehr Begehungen gesehen hat, als in den gesamten letzten 10 Jahren.
Im Bierkeller stellte Ende März Markus Köhler mit der (nach meiner Zählung) 6. Begehung der Cavedog erneut seine grandiose Form unter Beweis. Nach den Durchstiegen von The Master´s Consent und der 5. Jahreszeit Ende letzten Jahres war das fast eine Begehung mit Ansage. Glückwunsch Markus, mit voller Spannung harren wir der Dinge, was als nächstes an die Reihe kommt.
Schnell ein Blick in die Krypta, denn dort geschehen Dinge. Seit geraumer Zeit wird von Süden her Abraum in die kleine Grube geschoben, wo das endet ist noch völlig unklar, im ungünstigsten Falle wird die gesamte Grube verfüllt. In Mitleidenschaft sind alle Routen in der Nordwand des Sektors gezogen (Gesägter Riss bis Krypta), teilweise sind die Einstiege verschüttet und der gesamte Wandbereich ist hoffnungslos verdreckt. Der aktuelle Stand der Dinge ist, dass ab der Route Magnetar noch geklettert werden kann, bei Swens Ewigprojekt links vom Gesägten Riss wurde der komplette obere Wandteil samt Umlenker weggehobelt und der Gesägte Riss ist ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen. Unter der Woche solltet Ihr die Grube unbedingt meiden, sobald wir Kenntnis davon haben was dort geschieht, hier werdet Ihr es erfahren.
Genug der Präliminarien und nun zu den Neuzugängen, die sich sehen und klettern lassen können, darunter einige MUST DOs, die sich keiner entgehen lassen sollte.
Kaum zu glauben, aber nachweislich wahr – im Kottenheimer Gebiet hat Tobias Frentzen einen neuen Sektor aus der Taufe gehoben und dort insgesamt drei neue Wege geklettert. Sobald Ihr an der Weggabelung, die Ihr erreicht wenn Ihr vom Parkplatz in das Grubenfeld abgestiegen seid, scharf links abbiegt, am Toko-Block vorbei geht und etwa 10 Meter nach dem Block leicht linkshaltend auf das gut sichtbare Wändchen zugeht steht Ihr vor dem neuen Sektor Räuberwändchen. Gleich rechts vom Räuberwändchen befindet sich der Bouldersektor Rainbow Roof und mit Sicherheit hat der eine oder andere bereits auf dem Weg zum Rainbow Roof highballtechnisch einen Blick auf das Räuberwändchen geworfen. Das hat Tobias im Vorfeld gecheckt, ich konnte ebenfalls nichts sachdienliches dazu beitragen und so erblickten Vorsicht Gold VII!, eine mit einem fetten Längenzug garnierte Wandkletterei im linken Wandteil, rechts davon Sesam, öffne Dich! VI, eine kurze nicht ganz trivial abzusichernde Risslinie und Sherwood Rockfest VII, eine tolle und knifflige Kantenkletterei am auffälligen Pfeiler am rechten Rand des Sektors, das Licht der Welt.
Wie sich später herausstellte, wurde zumindest die Sesam, öffne Dich! bereits anno 2017 von Wolfgang Schüssler als Highball geklettert, mit 6a bewertet – ob nun UIAA oder Fb, keine Ahnung – und wohl die beiden anderen Linien auch, doch in Hinsicht auf diese war Wolfgangs Ansage nicht so ganz eindeutig. Naja, die Sesam, öffne Dich! besitzt nun einen Umlenker und kann so immer noch ohne störende Bohrhaken als Highball gemacht werden, bei den beiden anderen Routen wäre es dann unter „dumm gelaufen“ zu verbuchen, immerhin kann nach Lust und Laune jederzeit das Seil weg gelassen und die Matten ausgebreitet werden.
Kurz bevor Maximilian Meyer seine Zelte in den Gruben abgebrochen hat, um bei den Eidgenossen einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen – viel Glück dafür Max – beging er zum Abschied mit der Schattendasein VI rechts vom Amerikanischen Kühlschrank in der Zwischenwelt einen kurzen, bestens selbst abzusichernden Fingerriss.
Im Amphitheater hat Andreas eine Route zwischen Mayflower und 5. Jahreszeit eingebohrt, bei der man auf den ersten Blick rätseln könnte, ob das gut gehen kann. Aber auf Andreas ist Verlass. Mit seinem feinen Gespür für die letzten Möglichkeiten ist ihm mit dem Narrenzug VIII+ eine überraschend eigenständige Route gelungen, die sich bis zum 4. Haken entlang der erst leicht abdrängenden und dann plattigen Kante zwischen Mayflower und 5. Jahreszeit emporwindet, dann mit einer herb spannweitenabhängigen Cruxpassage nach links in die Mayflower aufwartet, die Crux der Mayflower mitnimmt, um dann am Pfeiler links des Ausstieges der Mayflower nochmals in medias res zu gehen. Wessen Arme zu kurz geraten sind, der wird in der Crux seine liebe Not haben, hat aber vom 4. Haken die Möglichkeit kerzengerade die Crux der 5. Jahreszeit anzusteuern – das ist dann aber nicht mehr für VIII+ zu haben.
Alle folgenden Erstbegehungen rekrutieren sich aus dem reichhaltigen Reservoir an vernachlässigten Projekten, darunter sind Wege, die schlappe 6 bis 7 Jahre vor sich hin gegammelt haben, der einsame Rekordhalter des Monats hatte ganze 16 Jahre auf dem Buckel. More to come – weitere 67 Ewigprojekte harren im Gebiet der Dinge.
Klarer Spitzenreiter unter diesen Neuzugängen ist die Rasputi(N)za IX/IX- an der Dürener Wand, die Daniel Limbach erstbegangen hat. Zwischen Total Vertan und Pufferzone geht es den von den beiden Risslinien eingerahmten Pfeiler strack hinauf, ständig links und rechts die Risskanten klafternd und passagenweise an der rechten Kante entlang, ausspreizen in die Risse sollte man sich für den full value sparen. Wer durch ständige Kreuzhänge und Riesenfelgen während seiner Turnerjugend seine Spannweite gepimpt hat, der hat gute Karten, mit zu kurzen Armen sieht die Kletterwelt in der Route schnell ganz düster aus. Ein Spitzenweg, der recht flott seine 2. Begehung durch mich und die 3. durch Alex Preis bekommen hat.
Die folgenden, nicht minder lohnenden Routen, gehen alle auf mein Konto und sie bieten ein Potpourri der kletterbaren Felsstrukturen im heimischen Basalt.
Im Sektor Kasparek-Theater in der Schäferlay könnt Ihr rechts der Schlipspredigt in der Cold Case IX- nach der etwas luftigen Einstiegsverschneidung Euren Spürsinn für kryptische Schlüsselpassagen an einem prallen Pfeiler unter Beweis stellen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich den zündenden Gedanken für die Lösung des cold case gefunden hatte, der AHA-Effekt war bemerkenswert, bei dem – ACHTUNG SPOILER! – der rechte Daumen eine entscheidende Rolle spielt.
Ein paar Meter rechts oberhalb könnt Ihr rechts der Lydia in Der Vollstrecker VIII+/IX- über dem 3. Haken checken was für Euch in Sachen Längenzügen möglich ist und bis dahin geht es in einer kniffligen Rissspur bereits nett zur Sache. Sehr lohnende Kletterei auf der Kurzstrecke mit einer überraschend luftig abgesicherten Crux wird geboten.
Ganz anders die Anforderungen in Die Phalanx des Willens IX- links der Potjekos im Sektor Waterworld. Sobald die Füße vom Boden abheben gilt es kleinste Leisten zu krallen und die Füße exakt zu platzieren – die Phalangien der Finger werden jubilieren, die Route kondensiert das Strukturdefizit auf das Wesentliche. Erst am 3. Haken der Potjekos kann aufgeatmet und gemütlich zu deren Umlenker geklettert werden.
Die letzten beiden Neuzugänge des Monats findet ihr in der Toms Lay. Die Touren dort befinden sich in einem erbärmlichen Zustand und alle Wege benötigen eine Grundreinigung, da dort Ewigkeiten nicht mehr geklettert wurde.
Die Linie von The Hazing IX- ist aber für die nächste Zeit sauber. Aus dem Einstiegsriss der Covadonga geht es subito nach rechts in die glatte Wand und sofort kommt die hackeschwere längenabhängige Passage vom 2. zum 3. Haken, gefolgt von einer zackigen Reibungspassage, die flink zu erledigen ist. Nichts wie hin, bevor die Moostapete wieder über die Wand drapiert wird.
Deutlich angenehmer die Kletterei im Damengambit VIII-, die über den Einstiegsriss der Rochade erreicht wird und dann nach rechts in die Wand hineinzieht. Ab dem ersten Haken geht es zur Sache und vom 2. Haken bis auf den rettenden Absatz lauert die stramme Cruxpassage entlang einer Rissspur, die von unten viel harmloser aussieht, als sie in Wirklichkeit ist.
Das war nun die üppige Neutourenausbeute im März 2022 und ich bin mir sicher, dass in den kommenden Monaten noch einige weitere tolle Wege folgen werden. Knapp vor Redaktionsschluss erreichte mich noch diese wichtige Info. In der Route Mut der Verzweiflung im Amphitheater wurden dankenswerterweise fünf solide Klebehaken gesetzt, sodass man die Route nun völlig entspannt ohne den Ballast der Cams klettern kann. Wer sich der Sache angenommen hat ist noch nicht bekannt, wird sich aber sicherlich bald zeigen – Kleber und Art der Haken lassen, wie deutlich im Bild zu sehen, bereits eindeutige Schlüsse zu. Aber jeder sachdienliche Hinweis darauf, wer in seinem Altruismus dafür gesogt hat, dass dieser Rissklassiker nun völlig ohne Mut und ohne in Verzweiflung zu geraten kletterbar ist, wird ausdrücklich begrüßt.