LES ABIMES, LES BROUILLARDS – LES GORGES DU VERDON

Bereits im Februar hat Job van Hemert eine der wenigen brauchbaren Tage des Winters ausgenutzt und im Kühlschrank mit der The Master´s Consent IX+ eine Kantenkletterei geknackt, die nicht den Vergleich mit den ganz großen Extremklassikern des Gebietes in diesem Genre scheuen muss. Rechts vom Almeisterschreck zieht die futuristische Linie lotrecht nach oben, eingebohrt von Andreas vor einigen Jahren, von ihm frei gegeben und von Job nach einigen Sessions des finetunings in style erstbegangen (s. Lehrvideo für motivierte Aspiranten auf youtube). Wie es sich für die harten Kantennummern im Gebiet gehört wird heftig boulderlastige und sequentielle Kletterei geboten, im oberen Teil ist darüberhinaus eine gewisse Reichweite durchaus von Vorteil und wenn die Temperaturen nicht stimmen, dann geht gar nichts. Job hat als BV IX+ ausgeworfen und mit seiner Erfahrung aus vielen anderen knackigen Linien im Gebiet (Merlin, Stronzo, Glühfinger, Agenda usw.) liegt er in meinen Augen damit spot on. Summa summaraum – eine weitere Kanten-King-Line im Gebiet, die ihresgleichen sucht und locker mit den bench mark Routen wie Merlin, Rammstein, Rigorosum, Black Mamba et al mithalten kann. Mooi gereden, jongen!!

Immerhin, eine neue Tour in sage und schreibe vier Monaten, über die sich zu berichten lohnt, aber in Anbetracht der andauernden Beschränkungen nichts, was euch auf längere Dauer unterhalten könnte. Und jetzt noch die Osterfeiertage, flächendeckend bombastisches Wetter und alle ausgefeilten Kletterpläne für die Osterferien für die Katz.

Aus diesem Grund denke ich wird Euch die nun folgende Geschichte sicherlich gut tun, sie erzählt, wie selbst ohne einen Virus die tollsten und noch so ausgefeiltesten Pläne voll nach hinten losgehen können und gerade deshalb sich das Erlebte unauslöschbar in die Erinnerung eingebrannt hat – leset und staunet von der Verdonschlucht, damals, Ostern 1988.

So wünsche ich Euch allen schöne Ostertage und bleibt alle gesund!

LES ABIMES, LES BROILLARDS – LES GORGES DU VERDON

NILS

Ein grauer, nasskalter Novembertag 1987. Seit Wochen hing beharrlich eine Hochnebeldecke über der Wetterau, einzige Abwechslung brachten Sprühregen oder, wenn Kaltluft eingeflossen war, Schneegriesel. Die Klettersaison war definitiv zu Ende, mit einer Ausnahme. Nach wie vor ging ich regelmäßig, ganz egal wie nass oder kalt es war, an die Burgmauer im Friedberger Schlossgarten, um dort mit eiskalten Fingern meine Runden zu drehen. Bouldern, Buildering – von diesen Begriffen hatte ich damals noch keine blassen Schimmer, ich ging dort klettern, die Natursteinmauern im Burggarten lieferten beste Trainingsbedingungen für Fingerkraft und das Nervenkostüm. Bei bis zu fünf Metern Höhe und teilweise dürftigen Landepisten auf Kieswegen und mit Tiefbordsteinen eingefassten Beeten wurde Letzteres bis an seine Grenzen ausgelotet. Crash pads waren noch Zukunftsmusik und meine selbstauferlegte strenge Ethik alle Routen ohne Seil anzugehen, selbst wenn es sich um Neuland handelte, leisteten ihren Beitrag dazu. Nur die Wand im Hirschgraben bot eine gediegene Landepiste. Dies war auch gut so, denn hier befanden sich die ganz harten Wege an der Burgmauer – Nâzgul, Die kleine Frau Maus, Das blutende Blatt, Der Ruf der Nacht.

Regelrechte Fingerkiller an kleinen Leisten, die das Markenzeichen für die aus Quarzit, Basalt und Sandstein gemauerte Wand im Hirschgraben waren und immer hufschwer bis zum letzten Zug an die rettende Sandsteinkante in luftiger Höhe. Am Wandfuß befand sich glücklicherweise eine matschige Rasenfläche, die gewährleistete, selbst wenn ich beim letzten Zug abschmierte, was nicht selten vorkam, dass ich mir die Sprunggelenke und Knie nicht sofort zerstörte. Im Herbst wurde der Einschlagsbereich von faulen Äpfeln, die von den nahebei stehenden Apfelbäumen gefallen waren, noch weiter aufge(p)äppelt.Ergo, ein ideales Laboratorium, um die Grenzen in Sachen Fingerkraft in neue Dimensionen zu verschieben.

Und in diesem November hatte das anhaltend feuchte Wetter ganze Arbeit geleistet. Der Boden war völlig aufgeweicht, die faulen Äpfel waren vom braunmatschigen Boden kaum noch zu unterscheiden. Es würde nur eine Weile und einige schmatzende Einschläge dauern, bis bei der herrschenden Kälte und Feuchtigkeit die eiskalten Finger auf Betriebstemperatur kamen. Doch nach über drei Jahren Burgmauererfahrung nahm ich das billigend in Kauf, auch dass nach den Landungen im Matsch die Schuhe völlig versaut waren, es zählte das Ergebnis und das Säubern der mit Apfelmatsch verkleisterten Sohlen mit den Handflächen wärmte zugleich die Hände auf.

So bewertete ich zunächst an diesem düsteren Novembertag die Bedingungen der Wand und meine Einschlagszone auf der Wiese mit einem geschulten Blick hinab von der den Hirschgraben überquerenden Brücke. Diese bot dafür den idealen Blickwinkel, die Wand war knochentrocken und die Wiese herrlich matschig – perfekte Verhältnisse. Doch dann sah ich etwas, das mir meine Kinnlade bis auf den Boden hinunter klappen ließ. Durch meinen Kopf frohlockte in ganz großen Lettern ein Gedanke, meine ungläubigen Augen wollten es jedoch nicht wahrhaben: „DA KAUERT EINER VOR MEINER WAND!!“.

Ich wendete meine Blick ab, schaute dann wieder hinunter und tatsächlich, da kniete unter mir jemand zusammengekrümmt vor der Wand. Genau in der gleichen Körperhaltung, die ich auch immer einnahm, wenn ich mit taubkalten Fingerkuppen von den rasiermesserscharfen Leisten abgefatzt war, klatschend im Morast am Wandfuß eingeschlagen war und das Blut langsam pochend und schmerzend in die Fingerkuppen zurückkehrte.

Der dort kauerte hatte völlig verschlammte Boreal Ninja an den Füßen, deren grüne Farbe nach der Landung im Sumpf nur noch zu erahnen war. Doch er war definitiv ein Kletterer, wer um diese Jahreszeit vor der Burgmauer kniet und Kletterschuhe an den Füßen hat, der musste einfach ein Kletterer sein. Ich ging in den Hirschgraben hinunter, lief auf die kauernde Gestalt zu und so lernte ich Nils kennen. Seitdem musste ich nicht mehr alleine vor der Wand im Hirschgraben mit vermatschten Kletterschuhen an den Füßen kauern.

KEHRAUS

Knapp drei Monate später, Faschingswoche in der Südpfalz, Dauerregen, die Wolken hingen in den Tälern, die Sandsteinfelsen vollgesogen wie ein Schwamm. An Klettern brauchten wir keinen Gedanken zu verschwenden. Kehraus am Bärenbrunnerhof, dort wechselte wieder einmal der Pächter der Gaststätte, das Bärenbrunner Tal wie ausgestorben, kein Licht brannte im Bauernhof, selbst der Bauer schien die Flucht ergriffen zu haben.

Nur aus der Gaststube der Kneipe funzelte eine Lampe in den Regenschleier hinaus, die Tür war nur angelehnt, wir traten ein. Am Tisch rechts vom Tresen wurden die Restbestände der Schnapsvorräte vernichtet, der Holzofen im Gastraum bollerte auf Hochtouren, das Ofenrohr glühte dunkelrot, die Luft im Gastraum schwer und stickig vom Holzqualm, vermischt mit Schwarzer Krauser und Schnapsgeruch. Massen von mehr oder weniger gefüllten Schnapsflaschen standen auf dem Tisch direkt neben dem Ofen, am anderen Tisch vier schon ordentlich bediente „Ex-Pächter“. Eine einladende Handbewegung, Nils und ich setzten uns dazu und halfen mit aller Kraft bei der Vernichtung der Restbestände.

Der Laden schien echt nicht gelaufen zu sein, denn die Bestände waren noch beachtlich. Da nimmt es kein Wunder, das wir binnen kürzester Zeit nach allen Regeln der Kunst völlig betrunken waren. Doch wir mussten aufholen, die anderen am Tisch waren uns schon weit voraus und seit geraumer Zeit weit jenseits von Gut und Böse. Wer von den am Tisch versammelten die glorreiche Idee hatte eine Faschingsdekoration aufzuhängen, das hat mir der Alkohol aus der Erinnerung gebrannt. Bereits am nächsten Tag war das, was nun folgte nur noch ein verschwommener Nebel voller abstruser Bilder. Aus alten Ausgaben der Rhein-Pfalz rupften wir uns Luftschlangen und hingen diese über die Lampen im Gastraum, dekorierten damit Tische, Bänke und Stühle. Dann bekam jeder von uns einen Malerhut aus Zeitungspapier gefaltet. Nach dieser Dekoarbeit saßen wir wieder am Tisch, jeder mit einem Malerhut auf dem Kopf und weiter ging es mit dem Schnäpse kippen. Es wurde nicht gesungen, es wurde nicht groß gelacht, der Anlass war wahrlich traurig genug, es wurde sich mit stoischer Entschlossenheit betrunken.

Mit fortschreitender Zeit nahm die Anzahl der zu leerenden Flaschen auf dem Tisch beim Ofen sichtlich ab und vor uns türmte sich eine beachtliche Batterie an geleerten Flaschen, deren Etikette dem aufmerksamen Leser einen aufschlussreichen Querschnitt durch die regionalen Weingüter und Schnapsdestillen verkündeten und unsere vom Alkohol, Tabakqualm sowie Holzqualm geröteten Augen kündeten von den Auswirkungen der Produkte jener Destillen.

Vor der Tür schien das nächste Sturmfeld eingetroffen zu sein, der Regen klatschte gegen die Scheiben, der Wind knarrte im Dachgebälk und drückte den Qualm des Ofens in die Stube. Doch nicht nur den Qualm des Holzofens drückte der starke Wind in die Stube, eine besonders heftige Böe ließ die Eingangstür der Gaststube klirrend aufschwingen. Dicke Regentropfen wurden hineingefegt und dann trabten mit klappernden Hufen des Ökobauers Stute samt Fohlen in den Gastraum, die Tür flog wieder zu, die beiden Pferde blieben ungerührt nebeneinander beim Ofen stehen und starrten uns dröge an.

Wir kamen nicht auf die Idee sie raus zu scheuchen, wir einigten uns darauf, dass die Tiere von dem Sauwetter vor der Tür genug hatten und sie sich nur ein warmes und trockenes Plätzchen gesucht hatten. Da sie es nun gefunden hatten wurden sie in die fröhliche Runde aufgenommen, bekamen ebenfalls eine Malermütze gefaltet und aufgesetzt, die Stute eine große, das Fohlen eine kleine, die Ohren wurden durch Löcher gesteckt, die wir in die Zeitungen gemacht hatten, die Mützen saßen perfekt, die Pferde rührte sich keinen Millimeter vom Fleck und wir widmeten uns weiter den Schnapsbeständen.

Weit nach Mitternacht ging der Ofen aus, die frohe Runde löste sich in aller Stille volltrunken auf, die Lichter gingen aus, Nils und ich sowie die beiden Pferde standen vor der Tür im kalten Regen, der Rest der Truppe brauste in bedenklicher Schräglage durch das Bärenbrunner Tal in Richtung Heimat und warmen Betten. Die Pferde trabten sichtlich unwillig durch den Regen zurück auf ihre Koppel, die Malermützen saßen immer noch perfekt und waren noch in der Finsternis zu erkennen, als sie Schutz vor den Elementen unter dem großen Baum auf der Wiese suchten.

Nils und ich waren noch nicht bereit für eine nasskalte und beengte Nacht im Kofferraum des Passats seiner Mutter. Eigentlich waren wir zum Klettern in die Pfalz gekommen und die ideale Möglichkeit für eine nächtliche Kletteraktion bot sich in der Durchfahrt zum Bauernhof. Hier fanden wir den einzigen trockenen Sandstein in der gesamten Südpfalz, zwar orgelte der Wind heftig durch die Hofpassage, doch die Chance zumindest ein wenig Sandstein unter die Finger zu bekommen ließen wir uns nicht nehmen.

Nach einigen Anläufen hatten wir einen Weg bis unter die Decke der Durchfahrt ausgebouldert. Zwar hämmerten die Landungen auf dem Betonboden der Durchfahrt fürchterlich in die Knie, aber mit unseren benebelten Köpfen und sedierten Schmerzsensoren blieben wir verbissen dran und fanden heraus, dass wir entlang des großen Dachbalkens an der Decke der Durchfahrt entlang hangeln konnten, um an der gegenüberliegenden Wand wieder abzuklettern.

Auch die Hangelei gelang uns nach ein paar Versuchen, inklusive einiger markerschütternden Abgängen auf den Betonboden von der Höhe des Dachbalkens. Als nächstes nahmen wir uns die offene Luke in der Decke rechts vom Dachbalken vor, durch die wir auf den Speicher des Bauernhofes gelangen konnten. Auf Anhieb gelang mir der schwungvolle Einstieg vom Dachbalken in die Luke, Turnvater Jahn wäre vor Stolz geplatzt, gefolgt von einem sportlichen Aufrichter auf dem Holzboden des Speichers. Nils erster Versuch endete krachend in der Einfahrt, beim zweiten Versuch schlug er neben mir auf dem Speicherboden ein. Auf dem Speicher war es zappenduster, nach ein paar Schritten weg von der Luke konnten wir die eigene Hand vor Augen nicht mehr erkennen. Muffig und staubig war es dort oben, am laufenden Meter stolpernden wir scheppernd über irgendwelche Geräte, die dort oben herumlagen. Nach einer Weile zögernden Tastens entschied sich Nils den Speicher zu erkunden, ich schlug mich nach rechts, er nahm sich die linke Seite vor, scheppernd und fluchend entfernten wir uns voneinander, dann war aus Nils Richtung nichts mehr zu hören – Totenstille aus Richtung links. Ich tastete mich langsam weiter voran und tappte plötzlich ins Leere, fiel in die Tiefe. Alkoholvernebelt wie ich war lallte mir im Flug nur ein Gedanke durch den Kopf: „Da war wohl noch eine Luke“. Für eine längere Tatsachenfeststellung blieb keine Zeit mehr, denn ich schlug in einen Strohhaufen ein, blieb schön weich gebettet liegen, es war dampfig warm um mich herum, es roch nach Tieren, ich blieb einfach liegen und schlief sofort ein – im Kuhstall vom Bärenbrunner Hof.

Ich erwachte im Morgengrauen, mit Betonung auf GRAUEN. Ich spürte die Nähe von großen, sehr großen Tieren, hörte ihr Schnaufen, fühlte ihre dampfige Wärme. Ich hatte einen Mörderschädel, rappelte mich auf und taumelte hinaus in den Hof. Kalter Nieselregen empfing mich, durchmischt mit dicken Schneeflocken, die auf das Kopfsteinpflaster des Hofes klatschten. Nils lehnte am Auto, seine Gesichtsfarbe versuchte es dem aschgrauen Licht des Morgens gleich zu tun, von den Felsen im Bärenbrunner Tal fehlte jede Spur. Wolken hingen in den Wäldern, auch dieser Tag Lichtjahre davon entfernt ein Klettertag zu werden. Wir stiegen ins Auto und fuhren nach Hause, Nils als Beifahrer mit einem mächtigen hangover, ich am Steuer, mit der frohen Erkenntnis, dass mit Nils richtig gute Klettertrips gemacht werden können.

LE CÂBLE D´ACCÉlÉRATEUR

Einen guten Monat musste ich warten, bis wir diese Erkenntnis erneut in die Tat umsetzen konnten und dies mit einer Fulminanz, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte – et videte et admiramini!

Nils hatte es irgendwie fertig gebracht den Passat seiner Mutter ganze drei Wochen für uns zu beschlagnahmen. Somit hatten wir einen roadtripfähigen Kombi, Zeit hatten wir sowieso und für die Ostertage konnte es nur ein Ziel für uns geben – ab in den Süden und ganz klar, wir kleckern nicht, wir klotzen – ab in die Verdonschlucht. Ich war noch nie dort gewesen, doch in der Rotpunkt hatte ich schon oft geeignete Bilder von der Schlucht sehnsüchtig in mich aufgesogen, dass ich bei dieser Auswahl nicht lange überlegen musste. Nils, der war bereits während eines Familienurlaubs die Route de Crête entlanggefahren, zum Klettern kam er zwar nicht, doch seine Augen glänzten wenn er von der Schlucht sprach: „Wenn Du zum ersten Mal da hinunter blickst“, orakelte er bedeutungsschwanger. Ich konnte es kaum erwarten.

Schlau, wie wir waren, gingen wir eine Woche vor den Osterfeiertagen auf die Piste. Etwas früh im Jahr vielleicht, aber hey, es ging nach Südfrankreich und selbst wenn es in der Haute Provence noch etwas frisch sein sollte, völlig egal, tagsüber würde es in den Südwänden schon passen und über den Rest würden wir nach dem Winter, der hinter uns lag, nur milde lächeln.

Ab auf die A5, bei Basel über die Schweizer Grenze, die bittere Pille in Form einer Vignette schluckten wir nur unter größtem Protest, doch es gab keine andere Wahl. Um die Ausgaben für die Fahrt in Grenzen zu halten war klar, dass wir auf französischem Boden nur via R.N. und D. das Zielgebiet ansteuern werden.

Im zunehmenden Feierabendverkehr landeten wir hinter Genf auf der R.N. nach Annecy, durch Annecy nur stop and go, an den Ampelanlagen herrschte das Recht des Stärkeren. Der zähe Verkehr bereitete uns keine Sorgen, hinter Annecy würde es schon besser werden und die restlichen 350 Kilometer sollten eine gemütliche Fahrt in den Abend hinein werden. Wir lagen voll im Plan, wir hatten damit gerechnet, dass uns irgendwann die freitägliche Feierabend-Wochenend-Verkehrs- Kombi erwischen musste.

Präziser – wir lagen voll im Plan bis zur Ampelanlage an der Kreuzung vom Boulevard de la Rocade mit der Avenue des Îles. Dort hatten wir die Spitzenposition auf der rechten Fahrspur inne, links von uns knatterte eine rostige Ente herausfordernd vor sich hin und auf der anderen Seite der Kreuzung tat sich eine große Lücke auf der linken Fahrspur auf. Diese galt es, sobald die Ampel auf Grün sprang, mit einem offensiv durch getretenen Gaspedal zu erreichen. Wir lauerten auf die Ampel, Nils gab dem Gaspedal ein paar aufmunternde Tritte, der Motor johlte erwartungshungrig auf, die Ampel sprang auf Grün, Nils haute den Gang rein, ließ die Kupplung kommen, trat das Gaspedal durch, der Passat machte einen Satz nach vorne und soff ab. Die Ente zog knatternd an uns vorbei, hinter uns brach sofort ein höllisches Hupkonzert los und die Ampel sprang wieder auf Rot.

Der Versuch den Motor wieder zu starten schlug fehl, der Anlasser orgelte zwar fröhlich vor sich hin, das Durchtreten des Gaspedals zeigte jedoch null Wirkung. Also raus aus dem Auto, Motorhaube auf und die Augenpaare zweier angehender Akademiker blickten konsterniert auf die übersichtlich angeordnete terra inkognita des Motorraums eines Passat 32B. Was wir erblickten sah auf den ersten Blick ganz ordentlich aus, etwas schmutzig und ölig vielleicht, aber Alles in Allem recht vielversprechend.

Nils schwang sich wieder auf den Fahrersitz, drehte den Zündschlüssel, der Anlasser gab erneut sein Bestes, er trat auf das Gaspedal und ich beobachtete, was sich im Motorraum tat. Sofort fiel mir auf, dass sich am Gaszug gar nichts tat, der verlief gut sichtbar oberhalb des Motorblocks hin zur Drosselklappe des Vergasers und wenn Nils auf das Gaspedal trat, tat sich am Bowdenzug nada niente. Mir dämmerte, dass meine Zeit beim Instandsetzungszug während meines Wehrdienstes doch nicht ganz umsonst gewesen war. Voller Stolz brüllte ich hinter der Motorhaube hervorblickend zu Nils, dass mit dem Gaszug etwas nicht stimmte. Nur was? Im wieder aufflammenden Hupkonzert widmeten wir uns einer systematischen Fehleranalyse. Motorseitig war alles im Lack, wenn Nils den Zündschlüssel drehte und ich gleichzeitig am Gaszug zerrte röhrte der Motor angriffslustig auf, ein Blick unter das Gaspedal brachte dann die Lösung. Dort war vom Gaszug weit und breit nichts zu sehen, wir fanden ihn erst nach etwas Sucherei hinter der Verkleidung des Fußraumes und schnell stellten wir fest, dass am Ende des Zuges etwas abgerissen war und in der Buchse auf der Rückseite des Gaspedals ein rundes Metallteil steckte.

Wir waren stolz wie die Spanier, keine halbe Stunde hatte es gedauert bis wir herausgefunden hatten wo unser Problem lag. Und nun?

Ganz klar, ab zur nächst besten Werkstatt, einen neuen Gaszug einbauen und ab dafür. Doch nur wie?

Das Hupkonzert bei jedem Wechsel auf Grün ignorierten wir nach wie vor geflissentlich, wir mussten nachdenken, zwei Polizeistreifen passierten uns und schauten desinteressiert auf unsere geöffnete Motorhaube. Da kam Nils die zündende Idee.

Bei geöffneter Motorhaube setzte ich mich fahrerseitig auf den Kühler, mein Hintern gut gepolstert durch den Kühlwasserschlauch und absturzgesichert durch die Haltestange der Motorhaube. Nils startete den Motor, ich zog mit der rechten Hand am Gaszug, Nils legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen sobald die Ampel auf Grün sprang und mit viel Fingerspitzengefühl meinerseits am Gaszug fuhren wir im Schritttempo über die Kreuzung.

Das klappte einwandfrei, in dem dichten Verkehr fielen wir mit unserem Schneckentempo kaum auf, nur war Nils im Blindflug unterwegs, starrte ständig auf die geöffnete Haube, somit war ich nicht nur der Heizer an Bord, sondern auch gleichzeitig der Steuermann. Mit der linken Hand gab ich ihm eindeutige Anweisungen – Daumen hoch. Gas! – Daumen runter. Weniger Gas!- Faust. Stopp!! – und hielt gleichzeitig Ausschau nach einer Autowerkstatt. Dann endlich, nach ein paar Ampelanlagen, zwar immer noch keine Werkstatt in Sicht, erbarmte sich unser ein LKW-Fahrer.

Er setzte sich hinter uns, fragte uns bei einer Rotphase wo unser Problem lag und versprach uns dann uns zu einem VW-Vertragshändler im Stadtteil Seynod zu geleiten. Das klappte ausgezeichnet, er hielt uns den Rücken frei, mit Blinkzeichen gab er uns die Richtung an, ich hatte am Gaszug inzwischen den Dreh virtuos voll heraus und musste nur darauf aufpassen, dass mir der zackige Propeller an der Lichtmaschine nicht den Allerwertesten filetierte.

Um kurz vor 16 Uhr tuckerte unser Geleitzug auf dem Werkstatthof ein, wir parkten vor der ersten geöffneten Garage, verabschiedeten uns voller Dank von dem hilfreichen Trucker und schnappten uns den erstbesten im Blaumann herumlaufenden Mechaniker.

Dieser war nicht unbedingt begeistert davon knapp vor Feierabend noch einen Notfall versorgen zu müssen, doch Dank Nils perfekten Französisch konnte er dazu überredet werden einen Blick auf unser Gefährt zu werfen und wir versuchten ihm klar zu machen, dass wir genau wussten wo das Problem lag. Doch trotz Nils Sprachkenntnissen fehlte ihm die Vokabel für den Gaszug und so sollte sich ich in Kürze eine der wichtigsten Vokabeln dieser wundervollen romanischen Sprache für immer bei mir einbrennen. Nils deutete in den Motorraum „Ce TRUC là“ – „Ah, le câble d´accélératuer“ – „ Genau, der Gaszug“. Wissend nickend verschwand der Mechaniker in der Werkstatt, nicht ohne demonstrativ auf seine Armbanduhr zu blicken, kam mit einem Typen im weißen Arbeitskittel im Schlepptau zurück, der mit seinem weißen Kittel eher nach Notaufnahme im Krankenhaus als nach Schrauberbude aussah, das Namensschild an der Brust wies ihn immerhin als Werkstattleiter aus.

Nils setzte gerade damit an zu erklären, dass der Fehler bei der Befestigung am Gaspedal zu verorten war, doch da langte der Meister schon in den Motorraum hinein. Er schnappte sich den Gaszug und riss das ganze Teil mit Schmackes aus der Verkleidung, schraubte das andere Ende vom Hebel der Drosselklappe und verschwand, die Trophäe wie zum Abschied in der Luft über sich wedelnd, mit einem knappen „un moment“ in der Werkstatthalle.

Das lief so schnell ab, wir hatten noch nicht einmal Zeit uns schützend vor den Motorraum zu stellen, der Meister wusste wohl, was er tat und der Mechaniker blickte schon wieder nervös auf seine Uhr, es ging überdeutlich auf Feierabend und das Wochenende zu.

Nach einer ganzen Weile erschien unser Trophäenjäger wieder auf der Bildfläche, in der rechten Hand unseren Gaszug, in der linken Hand eine Plastikverpackung mit dem erhofften Ersatzteil und einem Gesichtsausdruck, der durchaus Anlass zur Besorgnis gab. Schnell erklärte er uns, dass das Originalteil leider nicht auf Lager war, aber dass der neue Gaszug es genauso gut tun würde, es nur einen klitzekleinen Unterschied in der Form des gaspedalseitigen Anschlusszapfens gab. Statt eines runden hatte der neue Gaszug einen zylinderförmigen Zapfen, der sollte aber auch in die Buchse des Pedals passen, versicherte er uns jedenfalls.

Alors, wir flanschten das eine Ende an der Drosselklappe an, pfriemelten den Gaszug durch die Verkleidung zum Gaspedal hindurch, drückten das abgebrochenen Kugelköpfchen des alten Gaszuges aus der Buchse am Pedal und quetschten das Ende vom neuen Zug hinein – PASSTE!!

Für gerade einmal 30FF war der Schaden behoben, mit einem fröhlichen „Bon voyage“ verschwanden die beiden VW-Männer in der Halle, das Tor rasselte scheppernd herunter – Feierabend. Für uns galt es jetzt die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Dass dies eine schwierige Nummer geben sollte mussten wir bereits feststellen, als Nils beim Verlassen des Werkstattgeländes dem Passat die Sporen gab. Beim zügigen Kupplungs-Gas-Schaltvorgang flutschte das Ende des neuen Gaszuges sofort aus der Befestigungsbuchse und wir standen wieder genau dort, wo wir beim Beginn dieser Misere gestanden haben. Mit einem abgesoffenen Motor mitten auf der Straße, nur mit der zusätzlichen Erkenntnis, dass der zylinderförmige Noppen wohl doch nicht so ganz passgenau in der Buchse saß. Also, Motorhaube auf, am Gaszug ziehen, Gaszug aus der Verkleidung angeln, sein Ende in die Buchse pfriemeln und weiter ging die Fahrt.

Das wiederholte sich noch ein paarmal und wir lernten mit der Zeit, dass nur gefühlvolle Kupplungs-Gas-Wechsel das windige Konstrukt nicht zum Einstürzen brachten, rasante Wechsel auf der Klaviatur waren im wahrsten Sinne des Wortes ein absoluter nogo. Solange es nur geradeaus ging kein Problem, auf kurvenreichen Strecken eine große Herausforderung für den Piloten.

Daher entschieden wir uns bis Grenoble die A 41 zu fahren und opferten zu Gunsten unseres Zeitplans wertvolle FF an den péages. Doch hinter Grenoble fing der Spaß erst richtig an. Zum einen war es inzwischen stockfinster, zum anderen flutschte bei der Kurbelei auf der N 75 hinauf zum Col de la Croix Haute und hinab nach Sisteron der Gaszug gefühlte 1000 Mal aus der Buchse. Mit jedem ungeplanten Stopp auf dieser Strecke wurden wir immer schneller und versierter im Anflanschen des Zuges am Gaspedal. Zu unserem Glück war kaum Verkehr auf der Straße, der uns bei unseren ungewollten Boxenstopps in den Kurven und Steigungen hätte auf die Hörner nehmen können.

Der Ablauf der maintenance auf der Piste ging uns bald ins Blut über. Gaszug flutschte raus – Beifahrer sprang mit Stirnlampe bewaffnet aus dem Auto – Fahrer öffnete die Motorhaube – Beifahrer hielt Haube und zog am Gaszug – Fahrer fummelte den Gaszug in die Buchse – Beifahrer ließ die Motorhaube runter krachen und sprang ins Auto – weiter ging es. Nicki Laudas Boxencrew wäre stolz auf uns gewesen. Doch jeder Halt kostete wertvolle Zeit, wir wurden immer müder und die Strecke von Sisteron via Dinge und Castellane nach La Palud gab uns dann endgültig den Rest. Wir fuhren noch ein Stück die Route de Crête hinauf bis zum Parkplatz am Belvédère de la Carelle, schafften die Zielgerade sogar ohne einen Halt in der Boxengasse, parkten dort, stellten den Motor ab und kollabierten um vier Uhr, nach einer zwanzigstündigen ereignisreichen und Apollo-13-reifen Fahrt, im Kofferraum unseres Annäherungsmoduls 32B.

WIDE IS LOVE

Um kurz vor sieben war die Nacht für mich zu Ende, völlig gerädert schaute ich durch das beschlagene Seitenfenster hinaus in die aufkommende Dämmerung. Nils dreht sich stöhnend auf die Seite und versuchte auf Löffelchen mit dem Radkasten noch eine Runde Schlaf zu bekommen. Fehlanzeige, also schälten wir uns aus den Schlafsäcken, öffneten die Autotüren, eisige Luft schlug uns entgegen und wir reckten unsere durchgelegenen und von der langen Fahrt steifen Knochen auf dem Asphalt des Parkplatzes.

Von Horizont zu Horizont spannte sich ein wolkenloser Himmel, im Osten glomm es pastellfarben in allen Schattierungen von gelb über violett zu dunkelblau, auf den höchsten Felsgraten in dieser Richtung lag noch Schnee, gegen Sonnenaufgang stand der schwarze Schattenriss eines mächtigen und markanten Berges, im Süden flackerte einsam und langsam im Morgenlicht verblassend der Saturn. Nils musste sich erst die beschlagenen Gläser seiner Nickelbrille polieren, um auch in den Genuss diese Schauspiels zu kommen. Es war knackig kalt und wir angelten unsere Daunenjacken aus dem Auto. Wir lächelten uns an, wir hatten es geschafft, endlich, war das eine abartige Fahrt gestern, aber jetzt waren wir da. Ich schaute mich um und suchte die Schlucht, fragte Nils „Wo ist die Schlucht?“. Nils lächelte mich verschmitzt an und zeigte in südliche Richtung. Okay, da war zunächst die Straße, dann leicht ansteigende Kalkplatten, ein gemauerter Aussichtspunkt, begrenzt mit einem fetten Metallgeländer – von einer Schlucht aber weit und breit keine Spur. Es sah so aus, als ob wir auf einer Hochfläche standen, nicht mehr und nicht weniger. Da schlug Nils´ Stunde und er begann damit seinen bedeutungsschwangeren Satz, den er vor unserer Abfahrt in Bezug auf die Schlucht hatte im Raum stehen lassen, in die Tat umzusetzen.

„Mache die Augen zu und öffne sie erst, wenn ich es Dir erlaube. Ich führe Dich“. Also schloss ich meine Augen und mit einem sanften Druck auf meine Schulter schob er mich nach vorne, ich spürte den Asphalt der Straße unter meinen Schuhen, dann etwas ansteigend auf gestuften Fels, der teilweise unangenehm glatt war. Nils steuerte mich etwas nach links, über glatte Felsplatten ging es kurz bergauf, die Luft wurde spürbar kühler und feuchter in meinem Gesicht. „Strecke Deine Arme aus“, ich berührte ein kaltes und taufeuchtes Eisengeländer, „Halte dich mit beiden Händen gut fest und setze einen Fuß hoch“, ich tat wie mir befohlen wurde, setzte meinen rechten, dann den linken Fuß auf einen kniehohen Absatz und klammerte mich mit beiden Händen an dem Geländer fest. „Beuge Dich nach vorne – weiter!“, ich beugte mich nach vorne, „noch weiter!!“, ich hatte das Gefühl vorneüber zu kippen, aber Nils stabilisierte mich an der Hüfte – „WEITER! – und jetzt, Augen – AUF!!“.

Ich riss meine Augen sperrangelweit auf und mir blieb fast das Herz stehen, mir verschlug es den Atem. Ich blickte in eine haltlose Tiefe auf wallende Nebel, durch Lücken in der Nebeldecke war weit unter mir der feine Faden eines türkisgrünen Flusses zu sehen – der Verdon. Unter mir fielen steile graue Felswände senkrecht ab, linker Hand riesige graue und gelbrot überhängende Wandfluchten, ein nebelfeuchter, lauer Luftzug wehte aus der Tiefe empor, er roch nach Kräutern – nach Thymian und Rosmarin. Das Licht der im Osten aufgehenden Sonne streifte über die Oberfläche der Nebeldecke, die sich wie ein uraltes Lebewesen langsam hob und senkte.

Ich trat von der Mauer hinunter, hatte klapprige Knie und setzte mich mit dem Rücken zur Schlucht auf die Mauer. Nils schaute mich mit einem diebischen Funkeln in seinen Augen an „Na, habe ich Dir zu viel versprochen?“ Nein, das hatte er nicht, dieser erste Blick hinab in die Verdonschlucht, der hat sich bei mir für immer und ewig eingebrannt. Ich sprang auf, meine Müdigkeit war wie weg geblasen, ich war schlagartig glockenhell wach. Zurück zum Auto, einen Kaffee brauen, ein Müsli runterschlingen, das Kletterzeug packen – das war eine Sache von ein paar Minuten. Ich musste da runter, um hoch zu klettern, dann wieder runter und wieder hoch – besser konnte dieser Tag nicht beginnen.

Nach dem schnellen Frühstück liefen wir auf der Hochfläche am Schluchtrand entlang zu der Abseilpiste bei den Dalles grises und seilten hinab in den Jardin des Ecureuils. Die Nebel hatten sich bereits aufgelöst, als wir am Beginn der Abseilstellen ankamen. Die Sonne stand streifend in der Wand, die Temperatur war très agréable und in unserer ersten Route, die Atout Coeur, kamen wir Seillänge für Seillänge voll auf unsere Kosten. Immer aufs Neue begeisterte uns der Fels mit seinen unglaublichen Strukturen, seiner Griffigkeit sowie mit den verdontypischen goudots. Wir waren sofort im gaz und genossen in vollen Kletterzügen die noch gedämpfte Ausgesetztheit über dem Jardin des Ecureuils. In den beiden letzten Längen, verstärkt durch die zunehmende Tageswärme, spürten wir aber überdeutlich wie langsam aber sicher eine gewisse Müdigkeit und Trägheit über uns kam. Die Euphorie der frühen Morgenstunden hatte sich langsam gelegt und die Strapazen der Anreise meldeten sich wieder zu Wort. Vom Ausstieg trabten wir langsam zurück in Richtung Parkplatz, doch eines war klar – eine ging noch. Da kam für uns nur die Wide is Love in Frage, eine kurze Route an einem prallen Pfeiler, nur einmal abseilen, aber diesmal mit 300 Meter Frischluft und wilder Ausgesetztheit unterm Hintern, denn unterhalb des Standplatzes brach der Fels überhängend ab. Vom Stand ging der Blick haltlos bis hinunter zu den Geröllhalden am Wandfuss sowie zum mit Schmelzwasser prall gefüllten und fern dröhnenden Verdon.

Vom Stand kletterte ich in atemberaubender Ausgesetztheit die mit üppigen Griffen und Wasserlöchern gespickte Wand hinauf bis unter einen kleinen Überhang. Dort hielt ich kurz inne, blickte nach rechts in Richtung des Schluchtausgangs, zu den schneebedeckten Gipfeln im Osten, nach unten zu Nils, der über der saugenden Tiefe zu schweben schien und nach links, wo sich kilometerlang ein steinerner Vorhang weitere Wandfluchten aneinanderreihte. Bei meinem Panoramaschwenk streifte mein Blick auch den Aussichtspunkt am Belvédère de la Carrelle und dort lehnte eine Person lässig am Geländer, sie schaute offensichtlich in unsere Richtung.

Sofort blitze mir ein Gedanke durch den Kopf: „Du Mistkerl, stehst da oben Schmiere und behältst uns im Auge während Dein Kumpel unser Auto leer räumt“. Blitzschnell wischte mir mein doch recht positives Menschenbild kräftig übers Maul: „Spinnst Du, wie kannst Du nur so schlecht über diesen Touristen denken. Der hat gerade den Ausblick seines Lebens, aus seiner Perspektive schwebst du gerade spektakulär über dem Abgrund, klein und verletzlich in dieser großen Wand, jetzt klettere gekonnt über das Dach, er wird begeistert sein“.

Das tat ich dann auch und lieferte dem stillen Beobachter die Show seines Lebens, kletterte langsam mit ausholenden Bewegungen über das Dach, die riesigen Griffe machten es möglich, und danach die ausgesetzte Abschlusswand hinauf bis zur Schluchtkante. Vom Stand blickte ich wieder hinüber zum Belvédère, da war keine Menschenseele mehr zu sehen. Ich holte Nils nach, wir nahmen unser Seil auf und liefen zurück zum Auto, das natürlich nicht aufgebrochen war. Na also, die Menschheit ist im Grunde genommen gut, dachte ich mir.

SURVEILLER ET PUNIR

Wir warfen unser Kletterzeug ins Auto, Nils schwang sich an das Steuer und wir fuhren nach La Palud, dies ganz ohne Nothalt. Wir parkten vor der Bar, unser erklärtes Ziel waren zwei Pastis und irgendetwas zu Essen. Nils stieg aus, öffnete den Kofferraum und angelte aus dem Chaos seine Hose hervor, ich öffnete das Handschuhfach, um dort meine Geldbörse heraus zu holen. Doch sie lag nicht dort – „Äh, Nils, hast Du eine Ahnung wo mein Geld ist?“ Unisono kam aus dem Kofferraum die Stimme von Nils „Alex, hast Du meinen Geldbeutel gesehen, der war doch in meiner Hosentasche, oder?“. In den Rückspiegel blickend kreuzten sich unsere Blicke und in mir kam ein sehr ungutes Gefühl auf. Sofort kam operative Hektik auf, wir kramten hinter den Autositzen, durchsuchten unsere Taschen und Rucksäcke, NICHTS, während der Suche fiel uns auf, dass unser zweites Doppelseil sowie mein funkelnagelneues 50 Meter Einfachseil verschwunden waren, der fette Shell-Autoatlas hatte sich ebenfalls in Luft aufgelöst. Nachdem wir das gesamte Auto zum zweiten Mal auf links gedreht hatten und über dem rechten Türschloss ein kaum sichtbares Bohrloch entdeckt hatten, war uns klar, dass WIR am Carelle auf LINKS gedreht worden sind. Unser gesamtes Bargeld für den Trip, das frisch von der heimischen Sparkasse in unsere Geldbeutel gewandert war und die haarsträubende Anfahrt so gut wie unbeschadet überstanden hatte, das war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Gut und gerne 1000 FF in schönen großen 100er-Lappen und natürlich noch ein erklecklicher Betrag in DM, ALLES FUTSCH. Da Kreditkarten oder andersartiges Plastikgeld für uns im Jahre 1988 noch nicht existierten waren wir somit amtlich bankrott. Das am ersten Tag des Trips, eine wahrhaftige Spitzenleistung.

Obwohl, so ganz düster sah es dann doch nicht für uns aus. Bei der wilden Suchaktion im Auto fanden wir unter den Sitzen und im Chaos des Kofferraums noch ein paar Francmünzen und sogar ein paar Scheine, die an den péages , an den Tankstellen oder sonst wo dort gelandet waren und so kamen wir auf rund 100 FF, die uns wohl oder übel über die nächsten Tage bringen mussten. Nicht zu vergessen, der Tank war auch noch halb voll. Somit war noch nicht aller Tage Abend.

Wir teilten die Barschaft sicherheitshalber unter uns auf und steuerten die Klettererkneipe an. Wir mussten über unsere nächsten Schritte nachdenken und wir benötigten unbedingt Hilfe.

In der Kneipe herrschte gähnende Leere, feine Staubteilchen schwebten in den Sonnenstrahlen, die durch die Fenster in den Gastraum fingerten. Die Stühle standen noch auf den Tischen, auf dem Boden feuchte Streifen, da wurde wohl erst kürzlich durchgewischt. Hinter dem zinc ein offensichtlich Gitanes mais gegerbter Alt-68er, der gerade damit beschäftigt war mit einem nicht unbedingt sauberen Spültuch die Gläser auf Hochglanz zu polieren. Sein überraschter Blick verriet uns, dass er mit allem gerechnet hatte, nur nicht mit Gästen zu so früher Stunde.

Wir grüßten freundlich, bekamen ein verhaltenes „Salut“ zur Antwort, schwangen uns am zinc auf einen Barhocker und beantworteten seinen fragend, erwartungsvollen Blick mit „Deux Pastis s.v.p.“ Damit war der erste Schritt zur Lösung unserer Schwierigkeiten gemeistert. Wir gaben Eiswasser aus der bereitgestellten Karaffe in die Pastisgläser, nippten an dem opaleszierenden, milchig weißen Nationalgetränk, es dauerte nicht lange und wir fühlten uns erfrischend benebelt, kein Wunder, der Stoff landete direkt in unseren gähnend leeren Mägen.

Nils packte die Gelegenheit beim Schopf, blickte von seinem Glas auf und bemerkte in Richtung des, wie wir vermuteten, Besitzers „Nous avons und gros problème“ und legte dann los unsere Misere von A bis Z über den zinc hinweg zu berichten. Anfangs noch Abstand haltend, kam der Besitzer, sich im Verlauf als Lou vorstellend, zu uns hin, zwischendurch gab es weitere Pastis auf das Haus, dann auch für jeden von uns ein großes Bier und wir erkannten bald, dass nicht Gitanes mais an seinem gegerbten Gesicht die Schuld tragen, sondern Gauloises corporal. Deren Qualm wirbelte bald gemeinsam mit dem Staub durch die Sonnenstrahlen im Gastraum, das Päckchen machte die Runde und nicht nur unsere Geschichte ließ Lou „a bout de souffle“ zurück. Nachdem Nils fertig war hatten wir tüchtig einen sitzen und Lou bestätigte uns kurz und knapp „Donc, surveiller et punir, vraiement, tu as un gros problème….Mais!“

Wohl wahr, überwachen und abstrafen, besser hätte er es nicht auf den Punkt bringen können und nicht umsonst gibt es in der Schlucht eine bekannte Tour, die diesen vielsagenden Routennamen trägt. Wir waren nicht die Ersten und wohl auch nicht die Letzten, die es so kalt erwischen sollte, die blöd genug und völlig unbedarft genug waren in das offene Messer der Profis zu laufen, die nur darauf lauerten, dass sie solche Unwissenden nach allen Regeln der Kunst abziehen konnten.

Doch zurück zu Lous ABER – er schnappte nach dem Telefon, das hinter dem zinc stand und erklärte uns die nächsten Schritte. Mein erster Gedanke war, dass er vorschlägt die Polizei zu informieren, aber der wurde von Lou mit einer wegwerfenden Handbewegung verworfen – „nous allons être la risée pour les flics“ – eine Lachnummer für die komplette Wache in Castellane würden wir abgeben. Wir sollten uns darauf konzentrieren an Geld zu kommen und die einzige Möglichkeit das schnell über die Bühne zu bekommen war eine Postanweisung nach Moustiers-Sainte-Marie. Nils rief seine Eltern an und es dauerte eine ganze Weile, bis er die ganze Geschichte nochmals erzählt hatte, der im Telefon eingebaute Einheitenzähler ratterte fröhlich vor sich hin, doch mein nervöser Blick wurde von Lou mit einer beruhigenden Handbewegung quittiert – „C´ést bon“. Wir gaben die Adresse der Postzweigstelle in Moustiers durch, gleich zu Beginn der neuen Woche sollten 700 DM auf die Reise geschickt werden, es sollte ein paar Tage dauern, doch die Chancen standen gut, dass das Geld noch vor den Osterfeiertagen in Moustiers unter unserem Namen abgeholt werden konnte. Und so waren wir, Dank Lou, wieder im Spiel.

Die Tage bis zum erhofften Eingang des Geldes vergingen wie im Flug. Wir hatten grandioses Wetter, in der Woche vor den Ostertagen blieben die Wände wie leergefegt, wir hatten die Gorges du Verdon für uns und schöpften aus dem Vollen – Rêves de Fer, Dingomaniaque, L´Ange en Décomposition – die ganz großen Traumlinien, für uns manchmal am Limit unserer Fähigkeiten, doch das war uns völlig egal. Es waren traumhafte Tage mit Nebel am Morgen, sonnig und warm tagsüber in den Wänden, kalten Nächte im Kofferraum am Carelle, mit dem obligatorischen Pastis und der Gauloises am späten Nachmittag bei Lou und leicht angesäuselten Fahrten am Abend hinauf zu unserem Schlafplatz am Schluchtrand.

Dank Lous Großzügigkeit in Sachen Pastislokalrunden und unsere prall gefüllten Essenskisten, die von den Autoknackern links liegen gelassen wurden, kamen wir mit unserer überschaubaren Barschaft gut über die Runden und im Tank blieb ebenfalls noch ausreichend Sprit für die Fahrt am Karfreitag nach Moustiers.

Die zwanzig Kilometer lange Panoramafahrt über die kurvenreiche Piste dorthin entbehrte nicht einer gewissen Spannung. Dafür verantwortlich war jedoch nicht, insbesondere am westlichen Ende der Schlucht, die recht schmale und kurvige Piste entlang des Abgrundes, sondern die bange Frage in unseren Köpfen „Hat es geklappt? Ist das Geld da?“

In Moustiers parkten wir am Rathaus und Nils bewaffnete sich mit seinem Führerschein, sein Perso wurde wohl inzwischen in Marseille meistbietend versteigert, betrat das Postamt und ich hielt leicht nervös im Auto die Stellung. Es dauerte keine zehn Minuten, da stand er wieder vor der Tür und wedelte euphorisch mit einem dicken Bündel Geldscheinen in der Luft herum, in der kurzen Zeit hatte er bereits einen ordentlichen Betrag in Franc gewechselt – es hatte geklappt, wir waren wieder liquide. Unsere Erleichterung war grenzenlos, wir verpassten dem Passat eine satte Tankfüllung und da der Tag noch jung war ging es sofort zurück in Richtung La Palud und passenderweise wählten wir an diesem Tag als Kletterziel die kniffligen Plattenrouten am Miroir du Fou direkt über der Route de Crête.

Im Verlauf des Klettertages zogen immer mehr Schleierwolken auf, am Nachmittag wurden aus Westen die Wolken immer dichter und nachdem wir am frühen Abend nach dem Pastis und einer Runde für Lou aus der Bar traten, fielen die ersten dicken Regentropfen vom Himmel. In der Nacht trommelte der Regen auf das Autodach und in den Morgenstunden entlud sich ein heftiges Gewitter über unseren Köpfen, es kübelte wie aus Eimern. Der Wetterbericht in der La Provence war ein echter Dämpfer, für die nächsten Tage sah es richtig übel aus, für die gesamten Osterfeiertage war Regen satt angesagt, für die Haute-Provence als Bonbon sogar Schneefall. Nur an der Mittelmeerküste sah es etwas besser aus und da fiel uns die Entscheidung nicht schwer für ein paar Tage einen Tapetenwechsel zu machen, um das Schlechtwetter in hoffentlich sonnigeren Gefilden auszusitzen.

Wir schwangen uns ins Auto und kurvten via Route Napoléon in Richtung Nizza – unser Ziel, La Source, ein kleiner Klettergarten am Fuße des Baou de Saint-Jeannet.

BURNING MAN

Auf der N 85 in Richtung Süden schüttete es hemmungslos, erste Lichtblicke, in Form von weniger fetten Regentropfen, gab es auf der Höhe von Grasse und während der Fahrt entlang des ordentlich aufgewühlten Mittelmeeres in Richtung Nizza schaute sogar die Sonne kurz hinter den Wolken hervor.

Das war aber nur von kurzer Dauer, als es wieder in Richtung Landesinnere und auf Saint Jeannet ging, direkt auf das dräuende schwarze Gewölk über den Préalpes d´Azur zu, setzte erneuter ein feiner und stetiger Regen ein. Wir ließen uns davon nicht beeindrucken, steuerten in bester Laune durch die verwinkelten Sträßchen von Saint Jeannet, fanden auf Anhieb die Parkmöglichkeit bei der Kapelle Notre-Dame de Baous und nutzten eine kurze Regenpause, um Zelt, Klettermaterial und ausreichend Essensvorräte in den Rucksäcken zu verstauen, wir planten direkt unterhalb der Felsen unser Camp auf zu schlagen. Nach einem kurzen Abstecher in den Ort schnappten wir uns am späten Nachmittag die Rucksäcke und liefen auf einem holprigen Schotterweg in gemütlichen zwanzig Minuten bis zu einer Wiese direkt vor dem Klettergebiet. Ein idealer Zeltplatz, mit ein paar mächtigen Felsblöcken direkt vor dem Zelteingang und nur eine Steinwurf von den Einstiegen entfernt.

Wir hatten die freie Auswahl, wie schon im Verdon, kein Mensch weit und breit, wir stellten unser Zelt unter einem Olivenbaum auf und machten es uns gemütlich.

In der ersten Nachthälfte schauerte es immer wieder, dann blieb es für den Rest der Nacht trocken, der Morgen begann wolkenverhangen, doch an den Felswänden konnten wir immerhin einige trockene Wandbereiche ausmachen, wir konnten also ein paar Felsmeter in Angriff nehmen.

Aber an diesem Tag lief die Kletterei nicht ganz rund. Lag es an dem ungewöhnlich glatten und teilweise abgespeckten Kalk? Oder an der Tatsache, dass wir eine Woche im Verdon in den Knochen hatten? Möglich auch, dass wir von dem grandiosen Kalk der Verdonschlucht einfach nur verwöhnt waren. Stellenweise waren die Routen noch feucht vom Regen am Vortag und obwohl wir in den kleinleistigen schwierigen Routen des Gebietes einen klaren Heimvorteil hatten, der Friedberger Burgmauer sei Dank, auch in diesen Wegen lief es einfach nicht gut. Nach ein paar Routen warfen wir das Handtuch und entschieden uns für einen Ruhetag, legten uns vor das Zelt auf die Wiese und schauten den Kletterern zu, die inzwischen im Gebiet aufgetaucht waren. Ein paar Seilschaften waren an den Felswänden unterwegs, an den großen Blöcken wurde eifrig ohne Seil geklettert und auf der Wiese stand inzwischen ein weiteres Zelt, wie sich später herausstellen sollte ein Pärchen aus Stuttgart, das ebenfalls vor der Sintflut in der Haute-Provence geflüchtet war.

Wir lümmelten den gesamten Nachmittag faul herum, dezimierten unsere Nutellabestände, daumendick auf pain au chocolat, spazierten an den Felsen entlang, schauten einem local zu, der sich in einer hufschweren abdrängenden Kante aufrieb und versuchten heraus zu bekommen, was das Wetter in den folgenden Tagen machen sollte.

Es sah ganz so aus, als sollte es noch ein paar Tage dauern, bis wir wieder in die Verdonschlucht verlegen konnten. Zurück am Zelt, es begann bereits düster zu werden, entschieden wir uns für ein massives Carboloading. Nudeln hatten wir noch ohne Ende, Nils füllte den Topf mit Wasser an der nahen Quelle, ich warf den Colemankocher an, stellte den Topf auf die brüllende Flamme des Benzinkochers und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen begann.

Der Kocher röhrte wie eine startende Saturn V und nach einer kurzen Weile sprudelte das Wasser, ich hatte die Benzinzufuhr voll aufgedreht, das Waser explodierte förmlich im Topf, Old Faithful kurz vor einem Ausbruch war ein Witz dagegen. Nils lehnte lässig mit dem Rücken an einem Stein direkt neben unserer Kochstelle, er war völlig tiefenentspannt und hatte seine besockten Füße neben dem Kocher geparkt. Ich beugte mich vor, um den Kocher ab zu drehen, musste mich etwas verrenken, da der Hebel für die Benzinzufuhr auf der von mir abgewandten Seite des Kochers lag und dabei stieß ich gegen Topf mit seinem wild vor sich hin sprudelnden Inhalt.

Der Topf rutschte wie in Zeitlupe von der Brennfläche, kippte um und mit dem für Schrecken typischen Stromschlag in meiner Brust, ich brachte es noch nicht mal fertig Nils zu warnen, musste ich zu sehen, wie sich das siedende Wasser mit einem großen Schwall über seine Füße ergoss.

Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte atemlose Stille wie am Jüngsten Tag, Nils schaute mich mit erstaunten Augen an, dann schaute er auf seine Füße und in diesem Moment explodierten die Schmerzsignale vom distalen Ende seines Körpers in seinem Kopf. Mit einem gellenden Schrei, der durch Mark und Bein ging, sprang er auf, erst auf ein Bein, dann auf das andere, stolperte nach vorne und riss sich seine weißen Tennissocken, Marke sportiv gerippt mit zwei blau-roten Ringeln am Schaft, von den Füßen, fiel dann auf der matschigen Wiese der Länge nach hin und blieb wimmernd liegen.

Wie in Trance ging ich auf Nils zu, aus den Augenwinkeln sah ich seine Socken, deren Synthetikmaterial sich mit seiner Haut verschmolzen hatte und die er sich mit dem vehementen Ausziehen vom Spann beider Füße geschält hatte. Fassungslos stand ich vor Nils, sein linker Fuß sah sehr übel aus, dieser hatte die größte Ladung ab bekommen, aber auch seinen rechten Fuß hatte es ordentlich erwischt. Da er noch ein paar Meter ohne Strümpfe über die matschige Wiese gemacht hatte, waren zu allem Überfluss die Wunden stark verdreckt. Nils stand unter Schock und er hatte kaum Schmerzen an den Füßen, was kein gutes Zeichen war, im Gegenteil, das war ein Alarmzeichen dafür, dass die Verbrühungen tief eingedrungen waren.

Fast gleichzeitig mit mir stand auch das Pärchen aus Stuttgart bei Nils, wir hoben ihn auf und legten ihn auf eine Isomatte vor unser Zelt, kübelten kaltes Wasser aus der Quelle über seine Füße, so verschwand zumindest der gröbste Dreck von seine Wunden, doch was darunter zum Vorschein kam, das war kein erfreulicher Anblick. Beide Füße sahen sehr schlimm aus, uns blieb nur sie mit sterilen Tüchern zu umhüllen.

Sofort war klar, dass ein paar Brandpflaster und Wundsalben hier nichts bringen würden, er musste unbedingt in ein Krankenhaus. Aber um nichts in der Welt wollte er in ein Hospital in Frankreich, er wollte so schnell wie möglich nach Hause und so begann der letzte Akt unserer völlig aus dem Ruder geratenen Kletterreise nach Südfrankreich.

Da es bereits sehr spät war bereiteten wir alles für eine frühe Abfahrt am nächsten Tag vor. Wir betteten Nils ins Zelt, Glück im Unglück war, dass die Stuttgarter eine üppig bestückte Notfallapotheke in petto hatten, wir füllten Nils mit allen Schmerzmitteln ab, die wir darin finden konnten. Ein bombastischer Cocktail mit einem Schwerpunk auf Opiaten wurde aufgetischt und es dauerte nicht lange, bis Nils mit glasigen Augen und schwerer Zunge im Zelt die tollen Farben der Zeltwand würdigte. Ich packte die Sachen zusammen, schleppte die erste Ladung zum Auto, dann legte ich mich zu Nils und hielt die Nachtwache. Ab und zu schlief ich ein, Nils war so gut wie schmerzfrei, atmete ruhig im Schlaf, zwischendurch fütterte ich ihm weitere happy pills zu, fühlte mich dabei schuldig, hundsmiserabel und elend.

In aller Frühe half ich Nils aus dem Zelt, wickelte ihn dort in die Schlafsäcke ein und keulte Ladung Nr. 2 zum Auto. Es war noch stockdunkel, ein weiterer wolkenverhangener und trüber Tag, das passte. Dann geleitete ich Nils über den holprigen Schotterweg zum Auto. Für ihn war dieser Weg eine Tortur, nur mit Schmerzen konnte er auf seinem rechten Fuß auftreten, der linke Fuß war völlig hinüber, mit ihm versuchte er jeden Bodenkontakt zu vermeiden. Rechts auf einen Ast gestützt, mich als lebende Krücke auf seiner linken Seite, schleppte er sich zum Auto. Bodenkontakt mit dem linken Fuß war nicht immer zu vermeiden und einzelne Treffer an Felsblöcken trieben Nils die Tränen in die Augen. In mir zog sich dann immer alles zusammen, knapp eine Stunde brauchten wir für diese Via Dolorosa, am Auto angekommen war Nils völlig erledigt. Wir schoben den Beifahrersitz bis zum Anschlag zurück, klappten die Lehne um, Nils bekam von mir eine weitere grenzwertige Dosis Analgetika verabreicht und dann startete ich durch.

Es wurde eine rekordverdächtige Fahrt von Saint Jeannet bis direkt vor den Eingang der Notaufnahme des Bürgerhospitals Friedberg. In knapp zehn Stunden trat ich den Passat quer durch die Provence und die Schweiz nach Hause. Auf der Höhe von Basel gingen uns die Schmerzmittel aus, die restlichen Kilometer auf der A5 waren für Nils ein Höllentrip. Im Krankenhaus wurde schnell klar was die Stunde geschlagen hatte. Die Verbrühungen waren so großflächig und tiefgehend, an Spalthauttransplantaten ging kein Weg vorbei, insbesondere beim linken Fuß war höchste Eile geboten. Für Nils ging es von der Notaufnahme direkt auf den OP-Tisch und der operierende Dermatologe ließ auf seinem Oberschenkel das Dermatom kreisen. Nils bekam ein filigranes Netzwerk aus Eigenhaut auf beide Füße getackert.

So endete unser Klettertrip in die Verdonschlucht, die OP verlief problemlos und es war sicher gestellt, dass Nils bleibende Erinnerungen an diesen Trip behalten würde. Bereits am Tag nach dem Eingriff brachte er messerscharf zwei Folgen dieser Misere auf den Punkt.

Erstens: Wann konnte er wieder Kletterschuhe anziehen?

Zweitens: Würden seine Füße im Sommer je wieder beim Sonnenbaden braun werden?

Problem Nummer 1 war nach ein paar Wochen geklärt. Nils war schneller am Start als ursprünglich gedacht, wir kauerten bald wieder vor der Burgmauer, jagten nach sonnigen Tagen in der Pfalz – oder wurden dort vom Regen verjagt – und entdeckten für uns den Sandstein im Odenwald. Im Herbst des folgenden Jahres holten wir in der Verdonschlucht das nach, was uns beim ersten Trip dorthin durch die Lappen gegangen war – inklusive der Surveiller et Punir – und wir mussten Lou erklären, warum wir so plötzlich verschwunden waren. Es regnete Pastis nach der Geschichte

Und was wurde aus Problem Nummer 2? Darauf kann ich keine Antwort geben, Anfang der 90er Jahre verloren wir uns aus den Augen und ich frage mich oft, ob Nils noch heute, nach einem ausgiebigen Sonnenbad, wenn er auf seinem linken Fuß ein paar Pigmentfehler feststellt, an diesen unglaublichen Trip über Ostern 1988 in die Gorges du Verdon denkt.

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